Purdue Pharma will sich offenbar vor Gerichtsprozessen drücken (2024)

Am Ende des heutigen Tages werden in Amerika 130 Menschen an einer Überdosis Opioide gestorben sein. So wie gestern und auch morgen. Diesen statistischen Durchschnitt haben die US-Gesundheitsbehörden auf Basis der Zahlen von 2017 errechnet. Jährlich löscht die Drogenepidemie damit die Bevölkerung einer mittelgroßen Stadt aus. Nicht nur sind die sozialen Folgen katastrophal . Auch die finanzielle Belastung für die USA ist immens. Ökonomen schätzen, dass der Wirtschaft seit 2001 ein Schaden von über einer Billion Dollar entstanden ist.

Schuld daran trägt nach Meinung von Experten auch die Pharmaindustrie, die ihre auch suchterregende Produkte rücksichtslos in den Markt gedrückt und Missbrauch billigend in Kauf genommen habe. Ein Hersteller hat sich bei der aggressiven Vermarktung besonders hervorgetan: Purdue Pharma, ein privates Unternehmen aus Connecticut, hinter dem die Milliardärsfamilie Sackler steht. Purdue stellt das Schmerzmittel Oxycontin her.

Bald nach der erfolgreichen Markteinführung von "Oxi" im Jahr 1995 habe der damalige Firmenchef Richard Sackler zum Sturm auf die Krankenhäuser Amerikas geblasen, wirft ihm die Staatsanwaltschaft von Massachusetts vor. Die Einführung seiner Tabletten, habe Sackler auf einer Veranstaltung geprahlt, werde einen "Blizzard an Verschreibungen" auslösen - "so tief, dicht und weiß", dass er die Konkurrenz unter sich begraben werde.

Tatsächlich verkaufte sich das Präparat gut, und das hatte verheerende Folgen: Seit seiner Markteinführung hat sich die Zahl der Opioidopfer in den USA versechsfacht. Schon 2007 gab das Management von Purdue in einem Vergleich mit der Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) zu, Ärzte, Patienten und Kontrolleure über die Risiken irregeführt zu haben. Purdue und drei seiner Topmanager zahlten 635 Millionen Dollar Strafe. Seitdem wurden rund 2000 Klagen gegen das Unternehmen und andere Hersteller eingereicht, zumeist von lokalen und regionalen Regierungen.

Neben Massachusetts gehen weitere 35 Bundesstaaten juristisch gegen Purdue vor. Allein am Bundesgericht in Ohio sind 1600 Klagen anhängig. Im Mai wird der erste Prozess in Oklahoma stattfinden. Auch US-Präsident Donald Trump hat seinen Justizminister aufgefordert, gegen das Geschäft mit den Opioiden vor Gericht zu ziehen.

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Purdue weist alle Vorwürfe zurück und wirft der Generalstaatsanwältin von Massachusetts, Maura Healey, vor, die Fakten für ihre "sensationsheischenden und aufhetzenden Vorwürfe" aus dem Zusammenhang gerissen zu haben. Healey ist bislang die einzige Anklägerin, die nicht nur das Unternehmen, sondern mehrere Familienmitglieder persönlich ins Visier genommen hat. Man werde zum Sündenbock für die Opioidkrise in Amerika gemacht, klagt Purdue.

Zugleich geht das Unternehmen in Deckung. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters erwägt es gerade den Gang in die Insolvenz. Für diese Vermutung spricht, dass die Firma zwei Beratungsunternehmen angeheuert hat, die auf Restrukturierungen spezialisiert sind. Dabei sei Purdue Pharma in keinster Weise überschuldet, berichtet das "Wall Street Journal". Im Gegenteil: Das Unternehmen habe "keine signifikanten Kredite" in den Büchern.

Doch hätte die gezielte Pleite für den Pharmahersteller einen unschätzbaren Vorteil: Nach amerikanischem Recht würden damit schlagartig alle laufenden Gerichtsverfahren gestoppt. Die Klagen würden eingefroren und aller Voraussicht nach gebündelt an das zuständige Konkursgericht verwiesen. Statt sich an unzähligen Justizschauplätzen Amerikas mit seinen Gegnern auseinandersetzen zu müssen, könnte Purdue dann an einem Ort einen Vergleich mit allen Klägern aushandeln.

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In der US-Wirtschaft ist die sogenannte Insolvenz nach Gusto ein beliebtes Ausweichmanöver. So hat auch der kalifornische Energieversorger PG&E, dem nach Waldbränden Schadenersatzforderungen von 30 Milliarden Dollar drohen, den Exit des Chapter 11 gewählt. Die berühmte Insolvenzklausel stellt für US-Firmen in den seltensten Fällen das endgültige Ende dar. Nach einer Einigung mit den Gläubigern folgt in der Regel sehr bald die Sanierung.

Den Forderungen der Kläger würde Purdue also zwar nicht entfliehen. So kündigte der Generalstaatsanwalt des Bundesstaats Connecticut, William Tong, an, auch nach einer Pleite "heftig und aggressiv" gegen das Pharmaunternehmen vorzugehen. Fraglich ist allerdings, wie viel dann noch zu holen sein wird. Denn die Geschäfte laufen inzwischen nicht mehr so gut.

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Der Umsatz mit Oxycontin ist 2017 auf 1,7 Milliarden Dollar geschrumpft, während es im Spitzenjahr 2012 noch 2,6 Milliarden Dollar waren. Der neue - familienfremde - Konzernchef hat Hunderte Jobs abgebaut und die Werbung für den einstigen Opioid-Blockbuster inzwischen eingestellt. Stattdessen will sich das Unternehmen nun auf Medikamente für Schlafstörungen und Krebs konzentrieren.

Die satten Gewinne der Vergangenheit allerdings sind offenbar nicht im Unternehmen, sondern bei den Sacklers gelandet. Laut Anklage kassierten die Familienmitglieder zwischen 2008 und 2016 mehr als vier Milliarden Dollar. Die verbliebenen Vermögenswerte Purdues reichen laut "Wall Street Journal" wahrscheinlich nicht aus, um alle Schadenersatzansprüche abzudecken.

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